Anna hat endlich einen Freund. Er ist ihr erster fester Freund überhaupt, und er ist sehr aufmerksam. Fühlt sie ein neues Bedürfnis aufkommen und grübelt darüber nach, wie sie es ihm mitteilen will, so kommt er ihr meist zuvor und stillt es, ehe sie auch nur den Mund öffnen kann. Schaut sie ihm tief in die Augen, so meint sie bisweilen zu erkennen, wie er seinerseits in ihren forscht, ob es dort nicht einen Wunsch zu lesen gibt. Und wenn sie sich nicht vorsieht und einen von ihnen nicht tief genug in sich vergräbt, so findet sie ihn nicht selten anderntags erfüllt. Diese und nicht wenig andere seiner Eigenschaften sind unleugbar dazu geeignet, eine Frau in den siebten Himmel zu bugsieren, doch Anna achtet peinlich darauf, dass ihr gerade dies nicht widerfährt.
Sie ist vielleicht verliebt, doch ganz sicher nicht verklärt.
Wie jeden Freitag trifft sich Anna mit ihrer besten Freundin im Café. Kerstin ist durch die Hölle gegangen und ihr gerade erst entronnen.
„Klodeckel, Zahnpastatube, Socken im Bett, die ganzen Standards eben“, resümiert sie bitter. Kerstin muss als Expertin gelten in Sachen Männer, ist sie doch mit vielen schon zusammengekommen.
„Ich kenne sie alle. Mir macht keiner mehr was vor“, beteuert sie und Anna ist beeindruckt, auch wenn sie es für durchaus möglich hält, dass Kerstin ein bisschen dick aufträgt. Immerhin: Anfangs wirkte selbst sie durch die Liebe zu ihrem neuesten Ex-Lover nahezu erblindet.
„Klaus ist so liebevoll, richtig zärtlich“, hat sie vor sechs Wochen noch im Dunkeln getappt. „Weißt du was? Ich habe das richtig geile Gefühl, er behandelt mich voll mit Respekt.“
Dies allerdings war ein echter Fortschritt und etwas wahrhaft Neues, was der turnusmäßig fehlsichtigen Kerstin da widerfuhr, und Anna freute sich natürlich für sie. Das Fiasko mit den Socken hat zu jenem Zeitpunkt allerdings noch niemand erahnen können.
Annas Freund heißt Lukas. Er ist groß und schlank, aber nicht hager. Sein aufrechter Gang, seine Art, sich zu bewegen, sein Duft und sein offener Blick – Anna ist sich bewusst, dass er der Traum vieler Frauen sein könnte. Er trägt eine elegante Brille und noch immer volles Haar, obwohl er bereits an die vierzig Lenze zählt.
„Bernie hatte auch so eine Matte“, schildert Kerstin. „Die habe ich ihm ja noch durchgehen lassen, aber später musste es dann unbedingt noch der Vollbart sein. Das pikst so dermaßen!“
Dann stellte sie Bernie vor die Wahl, erinnert sich Anna: der Vollbart oder Kerstin. Anders als ihre heulende Freundin hat Anna nicht getrauert um ihn, zumal seine schrille Stimme ihr immer unangenehm in den Ohren klingelte.
Lukas' Stimme dagegen ist tief. Sanft und einfühlsam sucht sie sich stets neue Wege in ihr Herz, und oft spürt Anna ein Kribbeln in der Brust, wenn er spricht. Was er sagt hat Hand und Fuß oder lässigen Witz. Sein Humor steckt sie an. Sie lacht gern und viel mit ihm. Manchmal beängstigt es sie, wenn sie bemerkt, wie sehr sie an seinen Lippen hängt.
„Erst nach drei Monaten mit Matthes ist mir aufgefallen, dass er immer dieselben Schoten gerissen hat“, gibt Kerstin heute leichthin zu. So weit ist es mit Lukas noch nicht, denkt Anna, doch das kann selbstredend noch kommen.
„Eigentlich waren alle für die Tonne“, mäkelt Kerstin. „Sven war viel zu still. Das war mir nie so aufgefallen, erst, als wir zusammen in Urlaub gefahren sind. Hansi fing plötzlich an zu klammern, Friedo hat heimlich gesoffen, Martin hat sich als depressiv entpuppt. Außerdem hat er geschnarcht. Marcel war den ganzen Tag nur am daddeln und Hannes hing immer mit diesen echt fiesen Typen rum. Der andere Hannes hat sich von mir aushalten lassen, Eugen dagegen viel zu viel gearbeitet. Sören ... äh, weiß nicht mehr, was mit dem war, irgendwas war aber. Ach ja, und Oschi hat was mit mir angefangen, als er noch mit Biggi zusammen war, und mit Milla und Karin, als er noch mit mir zusammen war.“
Überhaupt sei es mit der Treue der Männer nicht weit her. Bei den meisten ihrer Ex-Kerle sei sie sich wirklich nicht sicher, ob sie nicht immer mal was nebenher laufen hatten. Aber das müsse wohl so sein, und wer das nicht wolle, müsse wohl die Finger davon lassen.
Die Finger davon lassen? Anna wünscht sich schon lange einen festen Freund, schon sehr lange. Sie ist wahrhaftig nicht gern allein, fürchtet sich geradezu davor. Stattdessen kuschelt sie sich gerne an einen warmen Vertrauten und lässt sich einfach nur festhalten. Sie liebt es, dabei all ihre Gedanken fliegen zu lassen oder langsame, tiefsinnige Gespräche zu führen. Sie geht nicht gerne aus, bleibt lieber in trauter Zweisamkeit daheim bei einem gemütlichen Essen, mit einem gemeinsam gelesenen Buch oder auch mal eng aneinandergeschmiegt vor dem Fernseher. Dass ihr all dies mit Lukas so perfekt gelingt, macht die Sache nicht gerade einfacher. Was nützt ihr eine verwandte Seele, wenn diese über kurz oder lang doch ihr wahres Inneres offenbaren wird? Anna fühlt sich einfach nicht stark genug, sich dann mit zutage tretenden Marotten herumzuschlagen, mit verqueren Ansichten, mit Alkoholismus und schlechten Manieren. Und schon gar nicht mit Fremdgehen!
Lukas ist ein biblischer Name, überlegt Anna. Ob man daraus wohl den Schluss ziehen kann, dass er eine christliche Erziehung genossen hat? Und könnte es sein, dass er von daher mehr von Treue hält als andere? Anna ist sich unsicher.
„Religiöse Typen sind überhaupt die schlimmsten!“, weiß Kerstin zu berichten. „Die kommen furchtbar lieb daher, aber wenn sie dich dann an der Angel haben, verlangen sie völlig abgefahrenes Zeuchs. So wie Micha ... äh ... nein Alex.“
Alex war vor Annas Zeit und Kerstin wäre so gerne mit ihm zusammengezogen, aber das habe er kategorisch abgelehnt. Überhaupt, Sex vor der Ehe und so, keine Chance. Enthaltsamkeit habe er über sie beide verhängt. Wer solle das aushalten?
Doch Kerstin ist im Stande, noch weitere himmelschreiende Dinge aufzuzählen, die Anna geradezu erschaudern lassen. Nach Beschneidungen und rituellen Hinrichtungen bildet die Burka den Höhepunkt in ihrer Liste religiöser Obskuritäten. Gewiss ist die Burka kein Steckenpferd speziell der Christenheit, der Lukas ja seinen Namen verdankt, aber Anna begreift, was Kerstin ihr mitzuteilen versucht. Auch, wenn es nicht so erscheint, als sei Lukas religiös umnachtet – sicher kann sie sich darin nicht sein. Sind nicht gerade religiöse Extremisten geschickt darin, sich in Gesellschaft unauffällig zu geben? Gerade Lukas' ausgeprägte Höflichkeit und seine Hilfsbereitschaft sind doch geeignet, wahre Absichten zu verschleiern. Das könne alles eine verdammte Masche sein, würde Kerstin jetzt mahnen, könnte sie Annas inneren Gedankengängen folgen. Anna jedenfalls missfällt es sehr, ihrer Freundin hierin beipflichten zu müssen, hatte sie sich doch in ihrer Naivität erhofft, Lukas wäre schlicht von sich aus ein so lieber Mensch.
Kerstin schaut Anna eindringlich an.
„Ich weiß, du bist noch nicht sehr erfahren“, hält sie ihr zugute. „Du kannst die Kerle eben noch nicht so richtig einschätzen. Wie auch? Du fängst ja gerade erst an. Das braucht jahrelange Übung, bis man einen Blick dafür entwickelt, glaub mir. Aber wenn du meinen Rat hören willst, dann sage ich: Lukas scheint echt eine Klasse für sich zu sein. Ist vielleicht der Hauptgewinn. Gib ihm eine Chance. Wenn du's nicht machst, mach ich's noch.“
Anna nickt lächelnd. Ratschlägen ihrer besten Freundin folgt sie gern. Kerstin kann sie vertrauen und ihr liegt viel an ihren Ansichten. Noch nie wurde sie enttäuscht, wenn sie auf ihre Empfehlungen gehört hat. Immerhin ist sie drei Jahre älter als Anna und schöpft aus einem ungleich größeren Erfahrungs-Pool. Sie kann auch viel analytischer denken. Wo Anna aus dem Bauch heraus handelt, gebraucht Kerstin ihren Verstand.
Auch in dieser Angelegenheit wird Anna also wohl auf ihre Freundin hören müssen. Nur gut, dass ihr nicht der beißende Zynismus in Kerstins Schlussfolgerung entgangen ist.
„Wenn du's nicht machst, mach ich's noch.“
Es war wirklich zu absurd anzunehmen, gleich beim ersten Versuch den Hauptgewinn zu ziehen, wo Kerstin doch schon so viele Lose durchprobiert hat.
„Lukas scheint echt eine Klasse für sich zu sein.“
Lukas eine Klasse für sich. Ja, gut gesprochen! Lukas ist der beste von allen, weiß Anna jetzt, der fähigste und dreisteste Blender von allen.
Dank Kerstin hat das nun ein Ende. Alles hat nun einmal seine Grenzen, und die erkennt Anna jetzt als überschritten. Ein so durchtriebener Schweinehund, der sie mit schleimiger Freundlichkeit um den Finger zu wickeln versucht, ein verschlagener Blaubart, der ihr das Leben vielleicht nicht nehmen, aber gänzlich zur Qual machen könnte, würde sie ihm nur den kleinen Finger reichen – so einer ist ihrer Liebe einfach nicht wert! Früher oder später würde er entweder zum Terroristen werden für den einen oder anderen Fundamentalismus oder sie mit einer dahergelaufenen Schlampe hintergehen. Darüber jedenfalls kann er sie jetzt nicht mehr hinwegtäuschen, auch nicht mit der uferlosen Zuneigung, die er ihr allenthalben aufzudrängen versucht.
Vielleicht, so muss sie sich selbst eingestehen, war sie doch ein klein wenig verklärt in den vergangenen Tagen. Aber endlich weilt sie wieder unter den Sehenden!
Nur verliebt ist sie jetzt nicht mehr.
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Der Entscheider schaut auf die Uhr. Dann schreibt er etwas in Sayids Akte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Der Dolmetscher starrt auf das welke Ahornblatt, das Sayid am Stiel hin und her dreht.
»Sie sind also als blinder Passagier gereist. Die ganze Strecke, von Somalia bis Hamburg. Habe ich das richtig verstanden?«
Sayid nickt – und weiß genau, wie die nächste Frage lautet.
Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Fast jeden Nachmittag trafen wir uns, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau.
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