Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Fast jeden Nachmittag trafen wir uns, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau. Natürlich war er nicht wirklich blau. Nicht, dass man hätte sehen können, wie er blau gefärbt gewesen wäre – an Händen oder Füßen oder gar im Gesicht. Vielmehr war es mein Bild von ihm, das ihn in dieser Farbe zeigte. Für mich hatte er immer etwas Blaues, in etwa so, wie die Zahl Zwei für mich weiblich und meine EC-Karten-PIN eine bestimmte Melodie ist.
Karl hatte eine große Schwester. Anne ist ein gutes Jahr älter als er und besuchte ebenfalls unser Gymnasium. Sie drehte aber in der Acht eine Ehrenrunde, und so kamen wir in dieselbe Klasse, Anne, Karl und ich, und mogelten uns später gemeinsam durchs Abitur. Wie ihr Bruder hatte auch sie immer schon diesen Hang zum Blau. Mit den Jahren mischte sich jedoch etwas Grün hinzu, sodass sie dieses zarte Türkis umgab, in das ich mich verliebte.
Auch nach unserer Hochzeit verbrachten wir viel Zeit mit Karl. Wir feierten stets gemeinsam und fuhren oft zu dritt in den Urlaub. Auch im August ’88 war er dabei, als wir wieder einmal nach Ramstein fuhren. Wir alle waren verrückt nach Flugzeugen. Keiner von uns hatte einen Flugschein, doch die militärische Flugschau auf der Ramstein Air Base war für uns seit jeher ein fixer Punkt im Jahr gewesen. Bis zu diesem Tag verliefen die Strahlen unserer drei Leben so parallel wie die dreifarbigen Rauchstreifen der heranjagenden Frecce Tricolori, die zur Begrüßung über uns hinwegdonnerten. Zehn Piloten in zehn Kampfmaschinen begeisterten uns und einige tausend Gleichgesinnte mit ihren Kunstflug-Figuren, die sie in den italienischen Nationalfarben an den Himmel malten. Wir beobachteten jede Wende, jeden Looping und dann die Form eines imposanten Herzens, das sich senkrecht vor uns erhob. Gespannt erwarteten wir das Finale der Show, doch als drei der Maschinen vor unseren Augen zerschellten, genau in diesem Augenblick, tauchten wir gemeinsam ein in eine andere Zeit. Die Sekunden, in denen sich der Feuerball in die Zuschauermenge bohrte, dehnten sich nicht etwa, wie sie es in einem Kinofilm getan hätten. Statt in Zeitlupe verstrichen sie so schnell, als hätte jemand den Vorspulknopf gedrückt. Wie Pfeile rauschten sie an uns vorbei und ließen uns das Inferno nicht begreifen. Warum war der Himmel mit einem Mal leer? Warum blieb das Finale aus? Irgendetwas hatte es verschluckt und unser Erleben auf die Erde zurückgeworfen. Wie in Trance taumelten wir durch dichten Qualm über eine Art Schlachtfeld, uns fest an den Händen haltend. Wir fragten niemanden nach Hilfe und brachten auch keine. Wir suchten nur einen Ausweg aus diesem Albtraum, und als wir ihn erreicht hatten, wussten wir nicht, wie wir ihn gefunden hatten. Wir schauten uns fragend an und fielen uns heulend in die Arme. Genau in diesem Moment kehrten wir wieder in die normale Zeit zurück. Wir tauchten auf aus etwas, für das wir keinen Namen hatten. Wir waren hindurch durch etwas, für das uns die Worte fehlten. Ein Ereignis hatte unser Leben durchkreuzt. Es stand unserer gemeinsamen Bahn im Weg wie ein Glasprisma einem weißen Lichtstrahl im Physikunterricht. Wir waren eingetaucht, hatten es durchstoßen, um auf der anderen Seite wieder herauszutreten – abgedrängt, umgelenkt, gebrochen, jeder gemäß seiner Farbe. Den Aufschlag, die Flammen, den Lärm, die Schreie, die Gerüche und die verzerrten Gesichter konnten wir kaum klar erinnern, und doch hatten sie unsere Lebenswege stärker gefächert, als wir noch am Ende des Tages glaubten.
Zunächst bemerkten wir dies an Karl. Er zog sich zunehmend zurück, kam nur noch selten zu Besuch und lud auch nicht mehr ein. Anne und ich trafen ihn nur noch sporadisch und merkten bald, dass er zu trinken begonnen hatte. Stets umgab ihn eine Fahne, immer öfter fanden wir ihn betrunken in seiner Wohnung vor. Innerhalb weniger Wochen war er zum Alkoholiker geworden. Fragten wir ihn, warum das so sein musste, antwortete er immer: »Die Träume. Es sind die Träume.«
Unter den Träumen litten wir alle. Was wir hatten sehen müssen, quälte uns zeitweise jede Nacht und bereitete uns Schlaflosigkeit und Depression. Wir alle waren in psychologischer Betreuung, bekamen Tipps und Methoden an die Hand, die Last der Erinnerung zu ertragen. Ich war der erste von uns dreien, der auf diese Weise wieder Schlaf und damit den Weg zurück ins Leben fand. Auch Anne schreckte nachts immer seltener auf. Ich arbeitete viel, und Anne trat einen neuen Job an, als Karl seinen verlor. Als er eines Tages fast an einer Alkoholvergiftung starb, rastete ich aus.
»Er soll sich mal zusammenreißen!«, ließ ich Anne wissen.
»Das geht nicht so einfach«, nahm sie ihren Bruder in Schutz.
»Bei uns ging es doch auch.«
»Er ist eben anders als wir. Du weißt doch, wie ihn all das verfolgt.«
»Uns hat es auch verfolgt.«
»Aber er ist nicht wie wir. Er kann es einfach nicht überwinden.«
»Kann-nicht ist der kleine Bruder von Will-nicht!«, ließ ich mich hinreißen und bereute es noch in derselben Sekunde. Schlagartig wurde uns beiden bewusst, wie weit auch wir uns voneinander entfernt hatten seit August. Hielt uns bisher der gemeinsame Kampf um unseren Schlaf noch beisammen, so drifteten wir jetzt umso deutlicher auseinander. Keine Entschuldigung, keine lieben Worte oder innigen Umarmungen brachten uns je wieder auf denselben Kurs.
Etwa vier Wochen, nachdem Karl sich schließlich das Leben genommen hatte, verließ mich Anne. Bevor ich sie aus den Augen verlor, sah ich sie noch ein einziges Mal, als unsere Ehe geschieden wurde. Ihr grünlicher Ton war verflogen. Über die Monate hatte sie Karls ursprüngliches Blau angenommen.
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Mit dieser Geschichte konnte ich beim Literatur-Wettbewerb 2013 des Autorenkreises Ruhr-Mark den ersten Preis in der Kategorie Prosa erringen :-)
An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei den Ausrichtern bedanken für ihre Mühe und Anerkennung.
Es macht mir sehr viel Spaß, an solchen Wettbewerben teilzunehmen und mich von Themen inspirieren zu lassen, die ich selber nie wählen würde. Zu dem sehr nüchternen Begriff „Prisma“, der die Vorgabe für diesen Wettbewerb war, fiel mir zunächst lange nichts ein. Und das ist dann immer das Spannende: zu beobachten, wie aus einer weitgefassten, fremden Idee letztlich doch eine ganz konkrete eigene wird, ein Text eben, der sagt, was man sagen möchte.
Inzwischen wurde Abgedrängt, umgelenkt, gebrochen auch in meinem Buch Märzchen im November veröffentlicht.
Der Entscheider schaut auf die Uhr. Dann schreibt er etwas in Sayids Akte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Der Dolmetscher starrt auf das welke Ahornblatt, das Sayid am Stiel hin und her dreht.
»Sie sind also als blinder Passagier gereist. Die ganze Strecke, von Somalia bis Hamburg. Habe ich das richtig verstanden?«
Sayid nickt – und weiß genau, wie die nächste Frage lautet.
Schon lange angekündigt und von vielen erwartet: der erste Roman von Peter Coon. Titel und Untertitel lauten: Entgrenzt – Wenn künstliche Intelligenz die natürliche sucht. Diese Geschichte – spannungsreich und philosophisch – handelt von künstlicher und natürlicher Intelligenz und beleuchtet sehr kurzweilig die Eigenheiten und Widersprüche des menschlichen Wesens.
Nach drei Kurzgeschichtenbänden und einer viel zu langen Pandemiezeit erscheint mit Wagnis nun endlich wieder ein Buch von Peter Coon – diesmal eine einzelne Geschichte, eine Novelle über Pazifismus in Zeiten des Krieges.